Hier erfahren Sie mehr zur Person Aurelia Wasser und zu ihrem künstlerisch-beruflichen Werdegang. Ein ausführliches Porträt ermöglicht dem Besucher zudem einen Zugang zu den Seelenwelten der Künstlerin.
AURELIA WASSER
Es war kein Geringerer als Caspar David Friedrich, der vor etwa zweihundert Jahren eine strenge Forderung an den Maler in sich und ebenso an jeden anderen Maler erließ: Ein Bild solle nicht erfunden, sondern empfunden sein. Der Maler möge nicht malen, was er vor sich sieht, sondern was er in sich sieht. „Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er zu malen“ postulierte der bedeutendste Vertreter der deutschen Romantik. Zwei Generationen vor Claude Monet löste sich hier ein Künstler von der reinen, exakten Wiedergabe der Natur, und mehr als hundert Jahre vor dem Aufkommen des Expressionismus brachte er eine Qualität in die Malerei, die zu seiner Zeit ganz neu und in höchstem Maße revolutionär war: die Wiedergabe von Stimmungen und Empfindungen. Um mit dem geistigen Auge zu sehen, muss ein Künstler das physische Auge schließen. Nur dann wird es ihm möglich, statt der äußeren Welt die innere wahrzunehmen: seine individuelle Innenwelt und die archetypische, die er mit allen Menschen teilt.
… TRIFFST DU NUR DAS ZAUBERWORT
AUF DEN SPUREN DER DEUTSCHEN ROMANTIK. ZUR BILDSPRACHE VON AURELIA WASSER
– LENA NAUMANN –
Es war kein Geringerer als Caspar David Friedrich, der vor etwa zweihundert Jahren eine strenge Forderung an den Maler in sich und ebenso an jeden anderen Maler erließ: Ein Bild solle nicht erfunden, sondern empfunden sein. Der Maler möge nicht malen, was er vor sich sieht, sondern was er in sich sieht. „Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er zu malen“ postulierte der bedeutendste Vertreter der deutschen Romantik. Zwei Generationen vor Claude Monet löste sich hier ein Künstler von der reinen, exakten Wiedergabe der Natur, und mehr als hundert Jahre vor dem Aufkommen des Expressionismus brachte er eine Qualität in die Malerei, die zu seiner Zeit ganz neu und in höchstem Maße revolutionär war: die Wiedergabe von Stimmungen und Empfindungen. Um mit dem geistigen Auge zu sehen, muss ein Künstler das physische Auge schließen. Nur dann wird es ihm möglich, statt der äußeren Welt die innere wahrzunehmen: seine individuelle Innenwelt und die archetypische, die er mit allen Menschen teilt. Die Traditionslinie der deutschen Romantik ist in den ihr folgenden Epochen teils in neuen Strömungen aufgegangen, teils ging sie verloren. Dass ihr Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft ist, sie uns noch immer etwas zu sagen hat, dass sie auch heute aufgegriffen und weiterentwickelt werden kann, zeigen die Arbeiten der Stuttgarter Künstlerin Aurelia Waßer, deren malerisches und bildhauerisches Werk vieles weiter entwickelt, das vor zweihundert Jahren erstmals thematisiert wurde und nun von ihr in die Sprache des 21. Jahrhunderts übersetzt wird.
VERBORGENES ÖFFNET SICH
Aurelia Waßer wurde 1972 in Stuttgart geboren. Der Vater, ein evangelischer Pfarrer, und die kunstinteressierte Mutter erkannten und förderten das künstlerische Talent der Tochter. Aurelia Waßer absolvierte nach dem Abitur über viele Jahre eine private Ausbildung in Malerei bei den Lehrern Professor Rolf Loch und Joe Allen. Beide ließen ihr neben der Vermittlung handwerklicher Techniken viel Raum, ihre eigene Bildsprache zu finden. Man vermutet es kaum und doch ist es Grundlage und Basis ihrer heutigen, oft abstrakt gestalteten Kunst: Aurelia Waßer ist eine exzellente Zeichnerin. Sie begann ihre künstlerische Laufbahn mit Porträtzeichnungen, doch die bloße Wiedergabe eines individuellen menschlichen Gesichtes befriedigte sie künstlerisch zu wenig. Mit den Jahren wandte sie sich der Landschaftsmalerei zu, doch ganz im Friedrich´schen Sinne weniger der Darstellung einer konkreten Landschaft als der einer überindividuellen, allgemeinen, mehr gefühlten und in ihr selbst gefundenen inneren Geographie: Aurelia Waßer malte Seelenlandschaften, also Regionen, die von ihr mit dem inneren und nicht länger mit dem äußeren Auge gesehen wurden. In ihnen ist der Mensch nicht verschwunden; er zieht sich zusammen zu einer schmalen, hohen, alles Individuelle hinter sich lassenden Figur.
In der abendländischen Geschichte und Symbolik wird die vertikale, auf den Bereich des Himmels verweisende Achse mit dem Bereich des Geistes und des Göttlichen in Verbindung gebracht. In diesem Sinne verweisen die nur andeutend erscheinenden Gestalten in den Gemälden von Aurelia Waßer auf eine metaphysisch-transzendente Ebene: das Individuum geht auf in der überindividuellen Gestalt, die in das Spannungsfeld zwischen Himmel und Erde eingebettet und darüber zum Symbol des Menschen an sich geworden ist. Im 2011 entstandenen Schlüsselwerk Gefangene der Nacht sind die angedeuteten Gestalten noch so dunkel wie ihre Umgebung und kaum erkennbar. Doch das ändert sich ein Jahr später: Im Werk Lichtgestalten III-2012 nehmen die Figuren eine helle Farbe an. Sie sind aus der Dunkelheit ans Licht getreten und stellen mit ihrer weißen Farbe die hellsten Partien des Bildes dar. Ihr Name – Lichtgestalten – wird für die Künstlerin zum Programm: Sie lässt die hellen Figuren immer mehr aus den Bildern heraustreten. Früher noch verborgen und von Dunkelheit umgeben, werden sie zuerst auf der Leinwand zunehmend dreidimensional, bis sie diese endgültig verlassen und sich zur freistehenden Skulptur weiterentwickeln. Sie tragen entweder den früheren Titel – Lichtgestalt – oder sie heißen Metamorphose und spielen auf ihre Verwandlung und Entwicklung an. Die Reihenfolge ihrer Entstehung ist an der chronologischen Nummerierung erkennbar, z. B. I-2013. Mit diesen gleichsam aus den Gemälden heraustretenden Figuren wurde die Malerin Aurelia Waßer zur Bildhauerin. Der überindividuelle, nur als vertikale Achse im Bild angedeutete Mensch manifestiert sich in den Skulpturen jetzt zu einer eigenständigen Persönlichkeit, die über unterschiedliche Ausgestaltungen allmählich auch wieder individuelle Züge annimmt, wenn auch vorerst nur zart. Jede Lichtgestalt ist anders geformt, jede zeigt eine andere Kopf- und Körperhaltung, in jeder scheint das Gewand vom Wind auf immer neue Weise erfasst zu werden.
Für die Künstlerin Aurelia Waßer war es ein weiter Weg von den Gefangenen der Nacht zu den lichten, ätherischen, selbstbewussten Skulpturen. Für den psychologisch Erfahrenen erübrigt sich der Hinweis, dass nur tiefgreifende, von innerer Erschütterung begleitete seelische Prozesse einen Künstler überhaupt erst in die Lage versetzen, sich in einer Weise zu entwickeln, dass seine Arbeiten derart wörtlich aus dem Dunkel ins Licht treten können. Wer das Fortschreiten dieser Bildsprache verfolgt, erkennt sogleich: hier ereignet sich eine besondere Art von Geburt, eine Befreiung, eine Bejahung.
In ihren Bildern arbeitet Aurelia Waßer mit Leinwand und Asche sowie dünnem, handgeschöpftem Papier, das die Wölbungen der Oberflächen strukturiert, ferner mit Bienenwachs und Acrylfarben. Letztere stellt sie mithilfe von Pigmenten selber her, um eine stärkere Leuchtkraft zu erreichen. Ihre Skulpturen gestaltet die Künstlerin aus handgeschöpftem Nepalpapier. Sie taucht ihre Hände in einen speziellen Binder und gibt dem Papier in vielen, sich über Tage und Wochen hinziehenden Arbeitsschritten die ihr innerlich vorschwebende Form. Das Bindemittel härtet das Papier aus und versiegelt seine Oberfläche. So werden die Skulpturen deutlich robuster als sie aussehen. Das dünne, optisch wie hauchfein geschnittener Marmor wirkende Papier lässt jede Art von Naturlicht und gezielter Beleuchtung durch sich hindurch scheinen, was den Lichtgestalten einen hochtransparenten Charakter gibt – ein Effekt, der durch den gläsernen Sockel verstärkt wird. Diese Skulpturen schweben. Sie lassen alles Schwere hinter sich.
DEM TOD DAS LEBEN ENTGEGENSETZEN
Zurück zur deutschen Romantik: Sie entstand als Gegenbewegung zur Strenge von Klassizismus und vernunftbetonter Aufklärung. Ihr Ziel war die Heilung des Risses, der durch die Welt und das Individuum geht, mit den Mitteln der Poesie. Bei Caspar David Friedrich wurde die Landschaft zum Hauptgegenstand der religiösen Malerei und zum Träger des Mystischen: „Das Göttliche ist überall, auch im Sandkorn“. Dass Friedrich oft Vergänglichkeit, Tod, Kreuz und Grab als Thema wählte, hat biographische Gründe: Als der dreizehnjährige Caspar beim Schlittschuhlaufen im Eis einbrach, rettete ihn sein jüngerer Bruder, kam dabei aber selber ums Leben – ein Schicksalsschlag, den der Maler nie verarbeitete und der ihn zeitlebens unter wiederkehrenden Depressionen leiden ließ. Friedrich konnte, obschon romantischer Maler, den Riss in der eigenen Seele nicht heilen. Das wird in seinen Bildern insofern deutlich, als der Mensch, häufig dargestellt als Rückenfigur, nicht mehr harmonischer Teil der Natur ist, sondern sie aus einer distanzierten Perspektive betrachtet. Er bleibt bei Friedrich von der Natur und damit von der Teilhabe am Leben getrennt.
Ein „Stimmungsmaler“ war auch Friedrichs englischer Zeitgenosse und Malerkollege William Turner. Doch stand bei ihm weniger das individuelle Gefühl im Zentrum der Bildsprache als vielmehr die Faszination von meteorologischen Phänomenen und Wetterstimmungen. Turner malte unter anderem zahlreiche Schiffsszenen und Seestücke. Die Darstellung von Nebel und Gischt, von Feuerschein und den Farben des Abendhimmels waren für ihn Faszination und Herausforderung zugleich. Zwei Generationen nach Friedrich und Turner verließ auch Claude Monet die strenge Gegenständlichkeit und wandte sich der bloßen Erscheinung, der „Impression“ zu. Im Unterschied zu Caspar David Friedrich, aber ähnlich wie Turner ging es Monet um die Darstellung weniger des inneren als des physikalischen Wahrnehmungsprozesses: wie sich Licht und Farben in einem bestimmten Moment dem Auge des Betrachters darbieten. Das interessierte ihn stärker als die Wiedergabe persönlicher Empfindungen im Bild. Monet ist der Maler von meteorologischen, weniger von psychologischen Stimmungen.
Die Wiedergabe von Empfindungen in Malerei und Skulptur erfolgt in den Arbeiten von Aurelia Waßer auf eine Weise, die sich von Caspar David Friedrich, William Turner und Claude Monet deutlich unterscheidet. Ihr geht es nicht um die Darstellung von besonderen Licht- und Luftverhältnissen, um die raffinierte malerische Wiedergabe von Nebel, Sonnenauf- und untergängen, Dunst oder spiegelnden Wasseroberflächen. In Sachen Abstraktion und Innerlichkeit geht sie weiter und tiefer als Friedrich, der immer noch äußere, wenn auch phantastische Landschaften zu Trägern der zu vermittelnden seelischen Empfindung machte. Aurelia Waßers Landschaften sind rein psychologischer Natur; sie sind in der Welt der Archetypen zuhause. Immer wieder passiert es, dass Menschen vor ihren Werken wie erlöst zu weinen beginnen. Aurelia Waßers Gemälde und Skulpturen haben Kraft, ja sie sind Kräfte und besitzen bei entsprechender Resonanz zum Betrachter erstaunlich kathartische, transformierende Wirkungen. Damit kommen sie einem Ziel sehr nahe, das zu erreichen die deutsche Romantik einst aufgebrochen war und das meisterhaft formuliert worden ist in einem berühmten Gedicht des romantischen Dichters Joseph von Eichendorff:
„Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.“